Ich rufe meine Brüder

imageIch “Ich rufe meine Brüder” von Jonas Hassen Khemiri

Premiere: 01.10.16, Badisches Staatstheater Karlsruhe

Regie:Marie Bues, Ausstattung: Indra Nauck, Musik: Martin Donner, Dramaturgie: Marlies Kink

Mit: Jonathan Bruckmeier, Sven Daniel Bühler, Marte Lola Deutschmann und Florentine Krafft

http://www.staatstheater.karlsruhe.de/programm/fotogalerie/2433/

Ein Anschlag – mitten in der Stadt. In dieser Nacht war Amor zum Tanzen in einem Club, allein. Sein bester Freund kann ihn nicht erreichen. Am folgenden Morgen hat Amor einen Kater. Erst langsam dämmert ihm, was passiert ist. Doch dann setzt die Angst ein, die Selbstbeobachtung, das Misstrauen. Denn Amor ist das Kind von Einwanderern. Der ganze Irrsinn des „Racial Profilings“ wendet sich gegen ihn, der nicht weiß ist, nicht blond, nicht alt oder weiblich, sondern ein junger Einheimischer – mit dunkler Hautfarbe. Sah der Täter nicht irgendwie aus wie er? Wird Amor observiert oder fühlt er sich nur verfolgt? Während Terror den Ausnahmefall aus der Perspektive des Staates und seiner Sicherheitskräfte beleuchtet, zeigt Khemiri, wie ein rassistischer Generalverdacht die betroffenen Mitbürger verunsichern kann. Der Autor wurde 1978 als Sohn eines Tunesiers und einer Schwedin in Stockholm geboren und gehört zu den wichtigsten neuen Stimmen Europas. Seine Stücke und Romane kreisen immer wieder um Fragen der Identität, Ausgrenzung, Zugehörigkeit und Diskriminierung in Gesellschaften, die von Diversität und Einwanderung geprägt sind. In seinen Texten gelingt es Khemiri, mit leichter Hand zu beschreiben, was für die Betroffenen ein tägliches Ringen um die eigene Würde bedeutet.

 

Presse:

Badische Neueste Nachrichten | Karlsruhe | KULTUR | 04.10.2016

Starkes Stück, toll gespielt
„Ich rufe meine Brüder“ am Badischen Staatstheater
Spannende Geschichte voller Verunsicherung

Versprechen eingelöst: Das zeitnah zum Bühnenblockbuster „Terror“ angesetzte Stück „Ich rufe meine Brüder“ von Jonas Hassen Khemiri hat das Badische Staatstheater Karlsruhe ausdrücklich als „Gegenstück“ angekündigt. Denn wo „Terror“ das Vorgehen bei möglichen Anschlägen aus der Sicht des Staates behandle, gehe es bei Khemiri darum, „was diese Angst vor Attentaten in den einzelnen Individuen auslösen kann“. Und die Premiere im Studio machte „Ich rufe meine Brüder“ auch darüber hinaus als geglücktes Gegenstück zu „Terror“ kenntlich: Statt einer spröden Versuchsanordnung gibt es hier plastische Figuren in vielschichtigen Szenen, und statt der Suggestion, man müsse sich in Krisenzeiten nun mal für eine Seite des Schützengrabens entscheiden, macht hier eine spannende Geschichte durch flirrende Verunsicherung bewusst, dass das Beurteilen von Menschen ein nie abzuschließender Vorgang ist.
Nicht zuletzt ist es ein Text, mit dem Schauspieler glänzen können, ohne aufdringlich zu sein. Allen voran Jonathan Bruckmeier: Er spielt Amor, einen muslimischen Schweden mit arabischen Wurzeln, der in Stockholm am Tag nach der Explosion einer Autobombe sich immer bedrohlicher von der Polizei beobachtet und verfolgt fühlt. Wobei: Zunächst einmal stellt er dem Publikum Amor vor, und zwar im Verhältnis zu dessen bestem Kumpel Shavi (Sven Daniel Bühler). Im Prinzip erzählen Bruckmeier und Bühler da nur die alte Geschichte einstiger Blutsbrüder, die sich durch unterschiedliche Lebensentwürfe (Amor studiert, Shavi ist früh Vater geworden) entfremdet haben und sich dennoch aneinanderklammern. Aber indem die gelungene Inszenierung von Marie Bues sich aufrichtig für die Figuren interessiert und die Darsteller (zum Ensemble gehören noch Marthe Lola Deutschmann und Florentine Krafft) genau den richtigen Ton treffen, werden die Figuren auch für den Zuschauer interessant. Und weil Bruckmeiers Amor als grundsympathischer Chemie-Nerd, der seine Mitmenschen nach ihren Charaktereigenschaften mit chemischen Elementen gleichsetzt, zunächst durchaus zur Identifikation einlädt, berührt es umso heftiger, wenn sich herausschält, wie wenig man seiner Sicht der Dinge trauen kann. Hat er etwa selbst die Bombe gelegt? Bruckmeier meistert den Spagat dieser Rolle großartig, etwa wenn er Amors charakteristisches verlegenes Lächeln plötzlich fallen lässt, sich mit fanatisch flackernden Augen in eine Kampfansage als Rächer der Entrechteten hineinsteigert – und danach das Lächeln übergangslos wieder aufsetzt wie eine Maske der Unauffälligkeit. Ebenso überrumpelnd ist, wie Khemiris Text die Folgen festgezurrter Weltbilder spiegelt: Es gibt eine Szene, die von Amors Erfahrungen mit Diskriminierungen durch die Polizei geprägt ist – aber das Vorurteil liegt in diesem Fall bei Amor, nicht bei den Beamten, die durch reine Hilfsbereitschaft beinahe zu Opfern von jemandem werden, der sich zu lange als Opfer fühlen musste. So bleibt Khemiris Text nicht bei der plakativen Anklage von Missständen stehen, sondern klagt an, indem er die langfristige Wirkung von Missständen zeigt. Ein stark geschriebenes, toll gespieltes Stück, dem viele Zuschauer zu wünschen sind. Andreas Jüttner